Wenn Mainstream-Medien über Zielgruppen-orientierte Software berichten
Man muss sich über die Online-Redaktion der Zeitschrift Chip doch sehr wundern. Kürzlich machte mich jemand darauf aufmerksam, dass deren Fazit für den quelloffenen Bildschirmleser NVDA nicht gerade positiv ausfällt. Eigentlich meide ich ja derartige Medien, aber nun war ich doch mal neugierig, warum mein seit Jahren als alleiniger Bildschirmleser genutzter Zugangshelfer denn so schlecht abschneidet.
CHIP Fazit zu NVDA
NVDA ist ein sehr nützlich [sic], wenn es darum geht Nutzer mit Sehschwäche die Möglichkeit zu geben, Grundfunktionen des Computers zu nutzen. Wenn es jedoch darum geht, dass Sie einem Blinden das Nutzen des Computers ermöglichen, dann ist das Programm weniger geeignet, da die Sprachausgabe oft sehr verwirrend und unnötige Sachen vorliest, wie zum Beispiel Internetadressen bei Bildern oder Links. User mit normaler Sicht brauchen NVDA eigentlich nicht.
Na huch? Die Software, welche von blinden Entwicklern programmiert wird, und in zahlreichen Ländern von ebenso zahlreichen blinden und sehbehinderten Nutzern verwendet wird, ist für Blinde dann doch eher ungeeignet? Die Antwort auf dieses doch sehr erstaunliche Fazit folgt dann auch prompt im nächsten Absatz.
NVDA ist ein kostenloses Programm, welches Blinden beziehungsweise Nutzern mit Sehschwäche dabei hilft einen Computer zu bedienen. Der Screen-Reader liest vor, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, sei es im Internet oder in Programmen wie Word oder Excel. Sie müssen lediglich mit der Maus über ein Wort oder Button fahren und Sie bekommen es vorgelesen.
Das ist doch nicht euer Ernst oder? Bei der Vorstellung, wie schlecht NVDA wohl abgeschnitten hätte, wenn gar keine Mausverfolgung möglich gewesen wäre, konnte ich mir ein Schmunzeln nicht ganz verkneifen. Zugegeben, nicht alle Blinden nutzen ausschließlich die Tastatur, aber sie ist in Verbindung mit einem Bildschirmleser immer noch die am einfachsten zu nutzende Eingabemethode an Desktop-Systemen. Die Mausverfolgung ist zwar möglich, ist für die meisten Aufgaben aber eher ineffizient. Sie ist für Fälle sinnvoll, in denen eine Navigation über die Objektdarstellung nicht oder nur umständlich möglich ist. Sie kann auch nützlich sein, wenn man eine Anwendung quasi physisch erkunden möchte, also den Aufbau einer grafischen Oberfläche. Sonst ist jedoch die Tastatur oder ein Touch-Screen die bessere Lösung.
Was nun die "verwirrenden" Ansagen der Sprachausgabe angeht: Sie sind ein Ausgleich für das, was für den Sehenden am Bildschirm dargestellt wird. Links bei Bildern und Internetadressen anzusagen ist prinzipiell nicht verwirrend, sondern kann im Gegenteil sehr hilfreich sein. Es entspricht etwa dem was passiert, wenn man in einer E-Mail oder dem Browser mit der Maus über einen Link fährt, und dessen Ziel dann in der Statuszeile angezeigt wird. Das Verhalten kann jedoch von Browser zu Browser etwas abweichen. Allerdings halten sich diese Ansagen in Grenzen. Bei Links sagt NVDA lediglich die Beschriftung sowie - falls vorhanden - das Title-Attribut an, nicht jedoch das Linkziel. Hierzu muss man sich bei fokussiertem Link die Statuszeile vorlesen lassen, sofern es der Browser unterstützt. Bilder werden in der Tat mitunter als Link zur Grafik dargestellt, meistens dann, wenn ein Alternativtext fehlt. Wird dennoch beim Überfahren eines Elements mehr Information als nötig vorgelesen, spricht dies eher für eine schlampig programmierte Webseite und nicht für einen Fehler in NVDA. Der Bildschirmleser kann also längst nicht nur für Blinde eine Hilfe sein, sondern sogar für Sehende als Indikator dienen, um ihre Anwendungen und Webseiten auf Zugänglichkeit hin zu prüfen. Auch wenn der Umgang mit einem Bildschirmleser für sehende Nutzer natürlich ungewohnt sein dürfte, sollte sich zumindest eine grundlegende Orientierung beim Erkunden der Anwendung ergeben.
Eine weitere Ursache für ein solches Fazit könnte natürlich sein, dass wir in einer Zeit leben, in der ohne Sinn und Verstand alles angeklickt wird, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Ein tatsächliches Begreifen der Technologie findet häufig kaum noch statt, sodass jede zusätzliche Information für normale Nutzer als überflüssig empfunden werden könnte. Wen interessiert schon die Adresse eines Links? Da steht, ich hätte gewonnen, also draufklicken und glücklich werden!
Am besten gar nicht darüber aufregen. In einer Mainstream-Publikation ohne weitere Recherchen eine Software zu bewerten, deren Verwendung man selbst gar nicht nachvollziehen kann, ist aber alles andere als hilfreich, liebe Chip-Redaktion.